Frances Glessner Lee hat ihr Leben der forensischen Wissenschaft gewidmet. Das Bild zeigt, wie sie ein Diorama bastelte. |
Als die "Goldküste" von Chicago noch ein Sumpfgebiet war, residierten die ganz Reichen im Prairie Avenue District im Süden der Stadt. Hier liessen Wirtschaftsgrössen wie Philip Armour, der die US-Fleischverarbeitung dominierte, Marshall Field, der mit der gleichnamigen Warenhauskette den Detailhandel revolutionierte und George Mortimer Pullman, der den ersten Schlafwagen baute, oppulente Villen nach französischem Vorbild hochziehen. Glück im Unglück: Das Millionärsviertel blieb beim Grossen Brand von 1871 völlig verschont.
In diese Gegend zogen auch John und Frances Glessner. John Glessner war Mitbegründer einer Fabrik für Landwirtschaftsmaschinen, die später über Fusionen mit Konkurrenten zu einem der grössten Hersteller der USA wurde.
Das Haus der Familie Glessner |
Glessner wollte keine französische Architektur, sondern liess sich von einem jungen Architekten namens Henry Hobson Richardson ein Anwesen in romanisch-vorgotischem Stil erbauen. Architektur ist eine Frage des Geschmacks, dachte ich mir, als wir das Haus - es ist heute ein Museum - durch den Verkaufsraum betraten. Sogleich fiel mein Blick auf eine kleine Büchervitrine. Und darin lag ein Buch mit dem Titel "18 Tiny Deaths, the untold Story of the Women who invented Modern Forensics". Mehr konnte ich nicht lesen, weil die energische Museumsführerin auf den pünktlichen Beginn der Tour pochte.
Meine Neugierde wurde schliesslich doch noch belohnt: In einem der zahlreichen Zimmer, durch die wir geschleust wurden, lag das Buch wieder auf. Es handelte sich um das Zimmer von Frances Glessner, der Tochter des Ehepaares Glessner.
Das Buch über das Leben von Frances Glessner Lee |
Und das ist die unglaubliche Story von Frances (1878-1962). Die Tochter wurde zu Hause erzogen. Während ihr Bruder in Harvard Medizin studierte, verwehrten ihr die Eltern den Gang an die Uni, obwohl sie schon als Kind davon geträumt hatte, Ärztin zu werden. Begründung: Für ein Mädchen aus gutem Hause schicke es sich nicht, zu studieren. Im Alter von 19 Jahren heiratete sie einen Anwalt, brachte drei Kinder auf die Welt und liess sich nach 16 unglücklichen Ehejahren scheiden.
Durch einen Studienkollegen ihres Bruders, der Rechtsmediziner werden wollte, fühlte sie sich zur Forensik hingezogen. Der Durchbruch kam nach dem Tod ihres Vaters: Frances erbte das Familienvermögen (ihr Bruder war schon einige Jahre zuvor verstorben).
Und sie wusste, was sie mit dem Geld machen wollte: 250'000 Dollar stiftete sie der Harvard University. Damit sollte der erste Forensik-Studiengang in den USA geschaffen werden. Wenig später schenkte sie Harvard eine Sammlung von 1000 Büchern für eine neue Fachbibliothek für Gerichtsmedizin. Und sie sorgte dafür, dass der erwähnte Studienkollege ihres Bruders den Lehrstuhl für Forensik erhielt.
Als dieser nur zwei Jahre später starb, übernahm sie selbst Lehrtätigkeiten und gründete die Harvard Associate in Police Science, die Seminare über Mordermittlungen anbot. 1943 wurde Frances Glessner Lee zum Ehrenhauptmann der New Hampshire State Police ernannt und wurde damit zum ersten weiblichen Polizeihauptmann der USA.
Um den Unterricht anschaulich zu machen, konstruierte die handwerklich begabte Frances unter anderem mit Zahnarztinstrumenten 20 Schaukästen, die exakt die Tatorte realer Todesfälle wiedergaben. Könnten Rechtsmediziner und Polizisten jedes noch so winzige Detail eines Tatortes genau erfassen und analysieren, würde die Wahrheit wie in einer verdichteten Miniatur des Geschehens - nach englischer Redensart "in a nutshell" ("in einer Nussschale") - sichtbar werden, glaubte Frances. Sie nannte ihre Puppenhäuser "Nutshell Studies of Unexplained Death".
Der Tatort als Puppenhaus. |
1945 übergab sie die morbiden Schaukästen der Harvard University, wo sie fortan in Seminaren eingesetzt wurden. Jeder Teilnehmer hatte genau 90 Minuten Zeit, den Miniaturtatort auszuwerten. In den "American Medical News" lobte Marylands Oberster Gerichtsmediziner John Smialek 1992 die Dioramen. Sie seien für den Unterricht von "unschätzbarem Wert" gewesen.
Hätte Frances Glessner Lee das mitbekommen, hätte sie sich zweifellos sehr gefreut. Doch die Hobby-Forensikerin war 30 Jahre zuvor im Alter von 83 Jahren gestorben. Der Forensik-Studiengang an der Harvard, den sie bis zuletzt finanziert hatte, musste eingestellt werden. Und sie bekam auch nicht mehr mit, dass die Ermittler heute mit modernsten Technologien arbeiten.
Die einzigartigen Dioramen können heute im Gerichtsmedizinischen Institut von Baltimore besichtigt werden. Mit Ausnahme einer Puppenstube: Sie steht im Glessner House im Zimmer von Frances. Daneben steht eine Sammlung von Ehren-Medaillen, die ihr verschiedene US-Polizeicorps geschenkt hatten.
Medaillen von verschiedenen Polizeicorps |
Und auch das hätte die eigenwillige Frau gefreut: Sie gilt als Vorbild von Jessica Fletcher in der Filmserie "Mord ist ihr Hobby". Fletcher wurde von der legendären britischen Schauspielerin Angela Lansbury gespielt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen