Unwiderstehlich: Die Stadt vom Chicago River aus betrachtet. |
Als Teile des Stadtzentrums in Schutt und Asche lagen, trafen sich am 11. Oktober 1871 - einen Tag nach dem grossen Brand - Geschäftsleute in der State Street, und besichtigten die rauchenden Ruinen ihrer Warenhäuser. Dann wurde in einer Konferenz darüber abgestimmt, ob man dem fast völlig zerstörten Chicago noch eine zweite Chance geben oder ob man an einer anderen Stelle unter günstigeren Bedingungen noch einmal ganz von vorn anfangen sollte. Das Votum fiel zugunsten Chicagos aus.
Dieser unbedingte Wille, der im Volksmund rasch mit "I will" bezeichnet wurde und noch heute als Symbol der Stadt gilt, führte zum Erfolg: Nur 22 Jahre später feierte die Metropole am Lake Michigan ihr Comback mit der Weltausstellung von 1893 (World's Columbian Exposition).
Und heute? Chicago leidet am gleichen Phänomen wie andere Grossstädte. Wandert man durch die Stadt, fallen die zahlreichen Plakate an Schaufenstern und Bürotürmen auf: Für die leeren Lokale werden dringend Käufer oder Mieter gesucht.
Ende Mai dieses Jahres zeichnete das "Wall Street Journal" (WJS) ein düsteres Bild von Chicago: Der Büromarkt leidet unter einer schwachen Nachfrage, höheren Zinsen und Refinanzierungsproblemen. Viele Geschäftshochhäuser stehen beinahe leer. Grosse Firmen wie der Finanzdienstleister Citadel sowie der Flugzeugbauer Boeing haben ihren Hauptsitz 2022 aus Chicago abgezogen.
Der Büroleerbestand in Chicago liegt laut neuen Daten bei 16,3 Prozent und damit deutlich höher als im Landesdurchschnitt von 13,8 Prozent. Laut WSJ werden Bürohäuser für Spottpreise verkauft.
Chicagos Behörden unter Leitung von Bürgermeister Brandon Johnson will Gegensteuer geben. Mit öffentlicher Unterstützung sollen leere Büroflächen in Wohnraum und Hotels umgewandelt werden. Derzeit läuft ein Projekt im Finanzdistrikt. In vier Gebäuden sollen so über 1000 Wohnungen entstehen. Die Stadt will sich mit 150 Millionen Dollar an den Kosten beteiligen. Voraussetzung ist, dass die Eigentümer ein Drittel der Wohnungen zu besonders günstigen Preisen anbieten.
Laut WSJ stufen Experten diese Lösung indessen nur als einen Tropfen auf den heissen Stein ein. Laufend reduzieren Firmen ihren Bürobedarf - eine Spätfolge der Pandemie, die völlig andere Arbeitsformen ausgelöst hat. So hat der Softwarekonzern Salesforce, dessen gleichnamiger Tower am Chicago River eine Augenweide ist, fast einen Drittel seiner Bürofläche zur Untervermietung ausgeschieden.
Selbst der Willis Tower, auf dem ich im gläsernen Balkon eine atemberaubende Aussicht genossen habe, blickt laut WSJ in eine ungewisse Zukunft. Die steigenden Zinsen treiben die Finanzierungsverpflichtungen in die Höhe. Laut dem Finanzriesen Blackstone, dem der Tower gehört, sind derzeit gegen 90 Prozent der Räumlichkeiten vermietet.
Das Schöne am Tourismus: Man kann, aber man muss sich nicht mit diesen Problemen beschäftigen. Wie auch immer, die Stadt ist und bleibt eine Wucht.
Chicago zu später Stunde. Rechts der Salesforce Tower. |
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