Ich habe in meinen Chicago-Schmonzetten viel über Frauen geschrieben, die mir durch ihr Wirken aufgefallen sind. So ist es nur logisch, dass ich mit einer Frau meine Reiseaufzeichnungen beende. Sie ist sozusagen die Antipodin von Edith Farnsworth und Frances Glessner Lee.
Ungebildet, arm, mit fünf Kindern gesegnet, wohnte Kate O'Leary mit ihrem Mann im Süden der Stadt Chicago in ärmlichsten Verhältnissen. Der einzige Reichtum waren vier Kühe, ein Kalb und ein Pferd, die in einer Scheune, vollgestopft mit Holz- und Kohlevorräten für den bevorstehenden Winter, standen.
Und genau hier brach das Feuer aus, das vom 8. bis 10. Oktober grosse Teile von Chicagos Innenstadt zerstörte. Unmittelbar nach der Katastrophe zirkulierte das Gerücht, Kate sei in der Scheune gewesen, als eine ihrer Kühe die Laterne umgestossen habe. Sie habe das selber zugegeben.
Bei den Untersuchungen schwor Kate jedoch, sie sei beim Feuerausbruch im Bett gewesen.
Doch Kate wurde nun in die Rolle ihres Lebens gepresst: die des Sündenbocks. Sie war eine Frau, irische Einwanderin, katholisch, sehr arm - Eigenschaften, die im damaligen politischen Klima von Chicago heftige Ressentiments auslöste.
Das änderte sich auch nicht, als ein Reporter namens Michael Ahern 1893 in der Chicago Tribune zugab, dass er nach Brandausbruch die Geschichte mit der Kuh und der Laterne in Umlauf gesetzt hatte. Er wollte mit dieser Story mehr Publikum gewinn. Die O'Leary hätten einen Teil ihres Wohnhäuschens an eine Familie namens McLaughlin vermietet. Während eines Festes sei ein Gast in die Scheune gegangen um Milch zu holen - und dann sei das Feuer ausgebrochen.
Und es änderte auch nichts daran, dass noch andere, teils sehr waghalsige Theorien kurzzeitig im Umlauf waren. Das Feuer sei durch eine weltweite Terrororganisation mit direkter Verbindung zu Pariser Kommune von 1871 verursacht worden. Laut einer anderen Theorie hatte ein Meteoritenschauer das Feuer ausgelöst.
Gegen die Bäuerin O'Leary hatten solche Theorien keine Chance. Und sie selber bestärkte das Narrativ der ungehobelten, schmutzigen Einwanderin bis zu ihrem Tod. So weigerte sich Kate, mit Journalisten zu reden, die noch Jahre danach bei ihr aufkreuzten um ein Interview zu bekommen. Wurden diese aufdringlich, verscheuchte sie die Männer. Was diese in ihrer Einschätzung bestärkte, bei Kate und ihrer Familie handle es sich ungewaschene Immigranten, vor deren Hütte es gewaltig nach Schnaps und Kuhdreck stinke.
Kate starb am 4. Juli 1895. Und so bekam sie nicht mehr mit, dass der Stadtrat von Chicago sie nach einer erneuten Untersuchung von jeder Schuld freisprach.
Die Legende von Kate O'Leary lebt bis heute weiter. Alle Besucherinnen und Besucher, die auf den Willis Tower wollen, werden an einem riesigen Wandgemälde vorbeigeschleust (siehe Titelbild). Und hier noch der Text zu einem populären Song:
Late one night, when we were all in bed
Mrs. O'Leary lit a lantern in the shed.
Her cow kicked it over,
then winked her eye and said,
"There'll be a hot time in the
old town tonight!"
Bereits 1881 errichtete die Chicago Historical Society ein Marmordenkmal auf dem Grundstück, wo einst die Hütte der O'Learys stand. Und als die Feuerwehr von Chicago in den 1960er eine neues Ausbildungszentrum plante, wählte sie das Areal hinter dem Denkmal als neuen Standort. Wenn Kate das wüsste?
Warum konnte eine Stadt innerhalb von zwei Tagen massiv zerstört werden? Von den rund 300'000 Einwohnern verloren 100'000 ihr Zuhause, gegen 300 Menschen verloren ihr Leben, was allerdings für dieses Ausmass wenig war. Die allermeisten Leute konnten rechtzeitig flüchten.
Es gibt viele Gründe: Der Sommer damals war heiss und trocken, starke Südwestwinde trieben das Feuer in Richtung Stadtmitte, die Feuerwehr war völlig überfordert. Laut Augenzeugenberichten erreichte der Funkenflug stellenweise mehrere Hundert Meter, das Feuer konnte so einen Fluss überqueren und in die Stadtmitte kommen.
Holz gibt es bekanntlich fast überall. In Chicago jedoch fand das Holz noch einen speziellen Verwendungszweck. Weil die Stadt auf sumpfigen Gebiet gebaut war, waren die Strassen oft knöcheltief verschlammt. Und so kamen die Behörden, kräftig unterstützt von geschäftstüchtigen Holzindustriellen auf die Idee, Holzblöcke in den Boden zu rammen und mit Kohleteer zu bedecken. Kein Wunder, dass beim Grossen Feuer praktisch ganze Strassenzüge brannten.
Eine solche Holzstrasse kann man heute noch besichtigen. Sie liegt in der Nähe der Astor Street, die im "Goldküstenviertel" von Chicago liegt. Ganz in der Nähe befindet sich die frühere Residenz des Erzbischofs von Chicago.
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